Ja, auf jeden Fall. Denn wer nicht zwischen komplexen und komplizierten Herausforderungen unterscheidet, schafft im Handumdrehen neue Probleme und verpasst die besten Chancen. Hier eine Übersicht und praktische Tipps, um angemessen zu handeln - egal wie komplex oder kompliziert es wird.
Der Unterschied: komplex oder kompliziert
Viele haben den Eindruck, es wird alles immer komplizierter. Das mag stimmen, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Viele Aspekte unseres Berufsalltags sind heute komplex. Das ist nicht „kompliziert hoch drei“, sondern etwas fundamental anderes.
Kompliziertes lässt sich analytisch lösen
Klassische Beispiele für komplizierte Systeme sind Maschinen und technische Anlagen. Sie sind nicht einfach zu durchschauen, aber Experten können die entscheidenden Wirkzusammenhänge verstehen und abbilden. Wenn Probleme auftreten, lassen sich die Ursachen durch systematische Analyse identifizieren und planbar beheben. Das kann zwar eine Menge Zeit und Nerven kosten, ist aber machbar.
Komplexes ist analytisch nicht fassbar
Beispiele für komplexe Systeme sind Organisationen oder Ökosysteme. Hier interagieren so viele Elemente und Akteure auf so vielen Ebenen so intensiv miteinander, dass niemand die Wirkmechanismen in Gänze durchschaut. Natürlich gelten auch hier die üblichen Ursache-Wirkungs-Prinzipien, aber sie sind so dynamisch und vielfältig miteinander vernetzt, dass sie sich analytisch nicht fassen lassen. In solchen Situationen sind wir oft ratlos. Haben keine Ahnung, wo und wie wir anfangen sollen. Es fühlt sich an, als müssten wir den Weg durch einen Sumpf finden, in dem sich Strömungen und Wasserstände permanent ändern.
Neue Wege zur Lösungs- und Entscheidungsfindung
Für das Handeln in komplizierten Situationen sind wir bestens gerüstet. Wir analysieren, identifizieren Ursachen, setzen Ziele und entwickeln Maßnahmen - am besten sogar smart, also spezifisch, messbar, ausführbar, realistisch und terminiert. Zufälle sind nicht vorgesehen, wir haben alles unter Kontrolle.
Für das Handeln in komplexen Situationen sieht es anders aus. Denken Sie an den Sumpf. Was also, wenn sich alles dreimal ändert, bevor wir mit der Analyse fertig sind? Wenn die Ursachen so vielschichtig sind, dass wir sie nicht fassen können? Wenn kleine Änderungen ungeahnte Auswirkungen haben können? Tja, gute Fragen. Mit unseren altbekannten analytischen und linearen Methoden kommen wir jedenfalls nicht weit. Das hat auch Mao Zedong schon feststellen müssen: Um eine drohende Hungersnot abzuwenden, rief er sein Volk zur Jagd auf Spatzen auf. Man hatte die Vögel als Missetäter und wesentliche Ursache für den Ernterückgang identifiziert, weil sie einen großen Teil der Saat fraßen. Womit jedoch keiner gerechnet hatte: Die "erfolgreiche" Umsetzung der Maßnahme erreichte genau das Gegenteil der Intention. Die Vernichtung von Spatzen führte zunächst zu einer Heuschreckenplage und in deren Folge zur größte Hungerkatastrophe Chinas.
Wie lassen sich komplexe Herausforderungen meistern?
Das Beispiel zeigt: es hilft nicht, auf Spatzen zu schießen. Allgemeiner ausgedrückt: lineare Ursachenbekämpfung funktioniert nicht in komplexen Systemen. Aber was dann? Können wir nicht einfach "besser" oder "umfassender" analysieren? Hätte man Biologen gefragt, hätten sie wohl darauf hingewiesen, dass Spatzen die Zahl der Heuschrecken begrenzen. Das ist richtig. Dennoch: im Nachhinein finden sich immer reichlich Personen, die "es gewusst hätten". Vorher machen die sich rar. Und das liegt in der Natur der Sache: In komplexen Situationen sind die Wechselwirkungen so vielfältig und dynamisch, dass niemand alle kennen und durchschauen kann. Wir können natürlich viele Menschen in die Analyse einbeziehen, doch auch das führt selten zu einer eindeutigen Bewertung von Ursachen und Handlungsoptionen. Statt dessen erhalten wir eine Melange unterschiedlicher, oft widersprüchlicher Meinungen - auch und gerade unter Experten. Das ist ein fast untrügliches Kennzeichen dafür, dass wir es in der Tat mit einer komplexen Herausforderung zu tun haben.
Die Frage bleibt: Was tun, wenn wir nicht wissen können, wie der beste Weg aussieht? Die Antwort ist schlicht: Wir müssen es probieren. Das allerdings möglichst clever, d.h. kreativ und in vielen kleinen Schritten. So entsteht der Weg beim Gehen.
"Neues Mindset" ist nicht genug
Das heißt: in komplexen Situationen planen wir nicht die beste Route zum definierten Ziel, sondern gehen von den aktuellen Möglichkeiten aus und wählen den jeweils nächstbesten Schritt. Das klingt fast trivial, oder? Ist es aber nicht. Insgeheim oder unbewusst setzen wir allzu oft im Kopf einen Häkchen ("ja klar") - und machen weiter wie zuvor, nur ein bisschen "agiler", irgendwie.
Tatsächlich steht ein solcher Ansatz in krassem Gegensatz zu (fast) allem, was wir in unserer von linearen Denkmodellen geprägten Ausbildung gelernt haben. Und zu dem, was Management Gurus weithin predigen. Das ist eine ernstzunehmende Hürde. Um sie zu überwinden, reicht es nicht aus, ein "neues Mindset" zu fordern. Das ist weder hinreichend noch praktikabel. Mal ehrlich: wie soll es denn gehen? Motivationsworkshop? Gehirnwäsche? Hilfreicher sind neue Denkmodelle und Methoden.
Framework zur Orientierung: Nicht alles ist komplex
Um das anfangs deutlich klarzustellen: Diese sollen unsere bisherigen Denk- und Handlungsmodelle ergänzen, nicht ersetzen. Wir brauchen die bekannten Ansätze noch - aber halt nicht immer, denn bei komplexen Fragen funktionieren sie nicht, wie oben ausgeführt. Deshalb müssen wir im ersten Schritt klären, womit wir es zu tun haben: komplex oder kompliziert? Unübersichtliche Herausforderungen brechen wir in ihre wesentliche Teilbereiche herunter und ordnen diese ihrer Natur nach ein. Fast immer werden wir entdecken, dass sie neben komplexen Aspekten auch solche umfassen, die "nur" kompliziert oder gar einfach sind und deshalb analytisch hervorragend gelöst werden können. Ein hilfreiches Framework dafür ist Cynefin®.
Methoden: komplexe Aspekte kreativ adressieren
Für die verbleibenden, komplexen Aspekte brauchen wir geeignete Strategien und Methoden. So kommen wir pragmatisch voran, schneller und weiter als mit reinen Mindset-Initiativen. Denn sobald wir anfangen, gemeinsam kreativ zu handeln, verändern wir die Wirklichkeit - und das beeinflusst unser Denken, was wiederum unsere Entscheidungen beeinflusst... Praktisch sind aus meiner Sicht drei Punkte besonders wichtig:
- Beteiligte einbinden (nicht nur "mitnehmen"), u.a. mit Narrativ-Techniken
- Vorhandene Elemente und Ressourcen zur Lösungsfindung kreativ nutzen, u.a. durch Erfinderisches Denken
- Mehrere kleine Projekte parallel initiieren und eng monitoren
Mehr zu Methodik und Vorgehen werde ich in einem separaten Blog-Post beschreiben.
Komplex oder kompliziert macht den Unterschied
Wenn wir auf die Einstiegsfrage zurückblicken, ist die Antwort völlig klar: Der Unterschied - komplex oder kompliziert - ist fulminant. Und er ist wichtig. Wenn wir die folgenden Punkte beachten, werden wir geeignete Lösungen finden:
- Wenn immer wir uns ins unübersichtlichen Situationen finden, sollten wir zunächst innehalten und gut überlegen, womit wir es zu tun haben, bevor wir loslegen.
- Komplizierte oder einfache Aspekte können wir mit altbekannten, analytischen Ansätzen gut adressieren.
- Komplexe Aspekte können wir nur mit kreativen, nicht-linearen Ansätzen sinnvoll adressieren. Dafür müssen wir uns auf neue Denkmodelle einlassen. Mit der richtigen Methodik wird das klappen. Schritt für Schritt können wir neue Wege erschließen.
Mehr Info & Lesetipps
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Foto: Tim Mossholder on Unsplash